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Wenn die Augen Bilder malen
               Gedanken zum Kunstschaffen von Helga Schuhr



               „Jedes neue Kapitel in meinem Schaffen entsteht aus   Zugleich geben die Collage-Elemente der Bildfläche eine
               einem inneren Bedürfnis“, sagt Helga Schuhr. Oft könne   konstruktive Struktur, die hier und dort den Eindruck ver-
               sie es nicht benennen, es wachse aus der Zeit.     mittelt, etwas Geschlossenes liege aufgefaltet vor einem.
                                                                  Dies wird unterstützt durch die horizontalen und verti-
               2001 kauft sich die Künstlerin eine Digitalkamera. Vieles,   kalen Bildteilungen, welche die Malerin – in Anlehnung
               das sie früher sah und bedachte, aber nicht fasste, wird   ans Layout von Zeitungen – im Prozess der Bildentste-
               nun  zum  fotografischen  Bild.  Und  findet  in  kopierter,   hung betont.
               fragmentierter, repetierter Form in die Malerei. Ein neues
               Kapitel.                                           In Zeitungen wird Einzelnes herangezoomt und in Texten
                                                                  verdeutlicht,  oft  in  Kombination  mit  Abbildungen.  Das
               Als  junge Frau lebt Helga Schuhr ein Jahr in England. In   macht Helga Schuhr in ihren neuen Arbeiten auch, aber
               der Tate Gallery entdeckt sie Bilder von Robert Rauschen-  anders.  Sie  holt  aus  ihren  Fotoarchiv  Motive,  die  von
               berg; Pop-Collagen, die Dinge in Form von Abbildungen   etwas Kleinem auf etwas Grosses verweisen, Fotos, die
               in  unerwarteter  Weise  verweben  und  zur  Malerei  ver-  über sich selbst hinausweisen; einen kleinen, zerdrückten
               binden. „Ich verstand das nicht, aber es faszinierte mich   Pappbecher, der in einem Gitter steckt zum Beispiel oder
               ungemein.“                                         den durch seine Frisur ornamental wirkenden Kopf einer
                                                                  jungen, dunkelhäutigen Amerikanerin oder die Gestalt der
               In ihrem eigenen malerischen Schaffen geht Helga Schuhr   Künstlerin selbst wie sie winterlich vermummt dem See
               zunächst andere Wege. In den gestisch-lyrischen Expres-  entlang schreitet, in Begleitung ihres eigenen Schattens.
               sionismus der ersten Jahre drängt sich die Figur, der weib-
               liche  Körper. Die  Dynamik, mit welcher die  Frauen der   Mittels Photoshop mehr oder weniger verändert, werden
               Generation von Helga Schuhr die veränderten Zeichen   die Fotos als Ganzes oder in Teilen ausgedruckt und als
               der Zeit aufgreifen, spiegelt sich darin. Dann verschwindet   Elemente – einzeln, gruppiert oder als rhythmische Bän-
               die Figur wieder, doch es bleibt im Gestischen das Kör-  der – frei ins Bild integriert; so sehr, dass sich die  Zeitungs-
               perliche; grosszügig und grossformatig. Bis New York die   übermalungen und die Fotografien bezüglich ihrer mate-
               Spiegelung der indviduellen Befindlichkeit mit der Stadt,   riellen Beschaffenheit kaum mehr unterscheiden. Inhaltlich
               der Architektur, den grossen Formen in Bezug setzt: Das   stehen jedoch die ursprünglich fotografierten Motive im
               Ich und die Weltstadt – eine neue Dimension.       Zentrum,  während  die  malerische  Umgebung  weitge-
                                                                  hend dazu dient, diese zu tragen.
               Mitte der 1990er-Jahre ist es Zeit innezuhalten, Bewe-
               gung zu verdichten. Die Künstlerin ist jetzt fünfzig Jahre   Bestehende Bilder in Kunstwerke zu integrieren, ist eine
               alt.  Nicht  zuletzt  unter  dem  Eindruck  der  Malerei  Mark   weit verbreitete Tendenz in der aktuellen Kunst. Bei Helga
               Rothkos und Barnett Newmans beruhigt sich ihr Schaf-  Schuhr mischt sich das Zeitempfinden mit der Erinnerung
               fen. Flächen, Farben und Proportionen werden zum Inhalt   an die frühe Prägung durch Robert Rauschenberg.
               ihrer Bilder.
                                                                  Eine weitere Etappe künden die auf Polysterol gemalten,
               Aber  da  ist  die  Zeit,  das  Zeitgeschehen,  die  Weltge-  vielfach  schwarz-weissen  Objektmalereien  an.  An  ihrer
               schichte. Sie bestimmt das Leben und drängt – nun nicht   bildlichen  Basis  stehen  wissenschaftliche  Fotografien
               mehr  ichbezogen,  sondern  auf  übergeordneter  Ebene   der  Körperzellen  der  Künstlerin.  Eine  Art  mikrokosmis-
               – zurück ins Bild. Wie Abstraktion, Form und den Puls   cher  Selbstbildnisse,  die  sich  als  Module  tausendfach
               des Geschehens verbinden? Sie beginnt die Leinwand   in Bildkörper übersetzen lassen. Später kommen andere
               mit Tageszeitungen zu „marouflieren“, das heisst mittels   Körperzeichen hinzu. Indem die Künstlerin die Kunststoff-
               eines Lösemittels untrennbar zu verbinden. Sie ist nicht   platten dreht, stellt, zur Spirale fügt, bringt sie interessanter-
               die erste, die auf diese Idee kommt, abgewandelt findet   weise das Körperliche und das Gestische aus Bildern der
               man sie schon bei Picasso, bei Le Corbusier, später bei   1980er-Jahre in gänzlich gewandelter Form neu ein.
               Rauschenberg  u.v.a.m.  Aber  Helga  Schuhr  macht  da-
               raus ein Konzept; sie legt ihrer Malerei das Weltgesche-
               hen zugrunde. Dabei geht es nicht um das Ereignis – die                                   Annelise Zwez
               Zeitungsschicht wird im Laufe des Bildprozesses weit-
               gehend übermalt – sondern die immanente Symbolik.
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